Der ältere Patient: Welche Medikation ist verzichtbar? Vortrag 2017

 

Prof. Dr. med. Erland Erdmann

em. Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie, Pneumologie und
Internistische Intensivmedizin
Herzzentrum der Universität zu Köln
Franz-Seiwert-Str. 8; 50933 Köln

 

 

 

Die Problematik
Zu diesem Thema gibt es kaum verlässliche Daten, obwohl Polypharmazie bei alten und hochbetagten Patienten ein großes Problem darstellt:

  • 42% der über 65-jährigen GKV-Versicherten nehmen ≥ 5 Medikamente pro Tag ein.
  • 53% der über 70-Jährigen nehmen sogar mehr als 6 Arzneimittel plus OTC-Medikamente täglich ein.

Das Risiko für Interaktionen und Nebenwirkungen steigt mit der Anzahl der eingenommenen Medikamente. Manche Nebenwirkungen bemerkt man erst nach Absetzen der Arzneimittel (z.B. Rückbildung von Muskelbeschwerden und Schwäche beim Absetzen von Statinen)!
Es gibt für Senioren potenziell inadäquate Arzneimittel, bei denen das Risiko größer ist als der Nutzen. Welche Medikamente für ältere Patienten gut geeignet sind und welche nicht, ist in der Forta-Liste („Fit for the Aged“) aufgeführt.
In dieser Liste werden Arzneimittel in 4 verschiedene Kategorien eingeteilt:

  • Kategorie A: Arzneimittel schon geprüft an älteren Patienten in größeren Studien, Nutzenbewertung eindeutig positiv
  • Kategorie B: Wirksamkeit bei älteren Patienten nachgewiesen, aber Einschränkungen bezüglich Sicherheit und Wirksamkeit
  • Kategorie C: Ungünstige Nutzen-Risiko-Relation fur ältere Patienten. Erfordern genaue Beobachtung von Wirkungen und Nebenwirkungen, sind nur ausnahmsweise erfolgreich
  • Kategorie D: Diese Arzneimittel sollten fast immer vermieden werden (Alternativen finden)*

An der Spitze der verordnungsstärksten Arzneimittel in Deutschland stehen ACE-Hemmer und Betablocker. Gerade diese Medikamente werden älteren Patienten häufig verschrieben, obwohl dies nicht immer sinnvoll ist. Auch für Digitalis, Statine und Aspirin, die bei älteren Menschen oft eingesetzt werden, gibt es im Alter nur wenige Indikationen.

 

Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz gehört zu den häufigsten internistischen Erkrankungen bei Patienten über 70 Jahren und zu den 10 häufigsten Todesursachen in Deutschland. In dieser Patientengruppe wird bei der Verordnung von Arzneimitteln besonders viel falsch gemacht:
Die meisten älteren Menschen leiden unter diastolischer Herzinsuffizienz (Heart Failure with preserved Ejection Fraction [HFpEF], Auswurffraktion über 40 oder 50%). Bei diesen Patienten gibt es laut neuesten Leitlinien (ESC Guidelines 2016) keine Therapie, die nachweislich die Morbidität und Mortalität senkt. Hier ist also nur eine symptomatische Therapie mit Diuretika sinnvoll; ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker (ARB), Mineralokortikoidantagonisten (MRA), Betablocker und Digoxin sind unwirksam und können lediglich unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen, ohne einen Nutzen zu bringen.
Bei alten Patienten mit reduzierter Auswurffraktion (HFrEF) ist der Einsatz von Betablockern, ACE-Hemmern, ARB und MRA hingegen sinnvoll, wie mehrere große Studien beweisen: Sie reduzieren die Morbidität und Mortalität, und es kommt zu weniger Hospitalisationen.

Therapie der koronaren Herzkrankheit (KHK) im Alter
Die KHK ist die zweithäufigste Erkrankung bei älteren Patienten. Wann ist die Gabe von Betablockern bei solchen Patienten sinnvoll?

  • Bei KHK und Herzinsuffizienz mit EF <40% sind Betablocker indiziert. Bei guter Auswurffraktion braucht der Patient keinen Betablocker; dieser würde solchen Patienten sogar eher Nachteile bringen.
  • Nach akutem Myokardinfarkt (MI) sind Betablocker maximal für 1 Jahr indiziert (eine längere Gabe bringt keinen Nutzen im Hinblick auf Lebenserwartung und Häufigkeit von Hospitalisationen).
  • Nach Stentimplantation sind sie allenfalls für 30 Tage erforderlich (wenn der Patient asymptomatisch ist).
  • Bei chronischer KHK sind Betablocker nur zur symptomatischen Therapie (Angina, Belastbarkeit, Rhythmusstörung) sinnvoll. In diesem Fall sind sie auch bei älteren Patienten indiziert.

 

Therapie der Hyperlipidämie im Alter
Statine zur Primärprävention sind vermutlich nicht sinnvoll (dies ist zumindest sehr umstritten); dementsprechend sollte man sie bei älteren Patienten erst recht nicht einsetzen. Leider wird dies in der ärztlichen Praxis dennoch häufig getan. Bei älteren Patienten sind die unerwünschten Nebeneffekte von Statinen jedoch meistens gravierender als die Hauptwirkungen: Wenn man 100 alte Patienten 5 Jahre lang mit einem Statin behandelt, haben sie keinen Überlebensvorteil; man kann lediglich bei 2 dieser Patienten einen Herzinfarkt verhindern, und sie leiden in 5 bis 20% aller Fälle unter Muskelkrämpfen, Schwäche, Müdigkeit, kognitiver Dysfunktion u.a. Nebenwirkungen und haben ein erhöhtes Diabetesrisiko.** Deshalb sollte man über den Einsatz von Statinen bei Senioren lieber zweimal nachdenken.
Lediglich in der Sekundärprävention ist der Einsatz von Statinen möglicherweise sinnvoll; doch wenn man sich dafür entscheidet, sollte man älteren Patienten keine Hochdosistherapie, sondern niedrige Dosen verschreiben. In solchen Fällen sind 20 mg Simvastatin die beste (und kostengünstigste) Therapieoption. Leidet der Patient unter einer Herzinsuffizienz (NYHA II–IV), so bringt ein Statin keinen Nutzen. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz (GFR <30 ml/min) und bei einer Lebenserwartung unter 2 Jahren ist die Gabe von Statinen ebenfalls nicht sinnvoll. Alle anderen Lipidsenker sind im Alter nicht indiziert.

Absetzen von Aspirin und Digitalis im Alter?

  • Für eine Dauertherapie mit ASS gibt es keine gesicherte Indikation (außer eventuell nach Stentimplantation).
  • Ohne ASS bessere Nierenfunktion, weniger Herzinsuffizienz! (Auch eine Dauertherapie mit niedrig dosiertem ASS kann sich bei älteren Patienten negativ auf die Nierenfunktion auswirken.)
  • Beim Absetzen von Diuretika ist Vorsicht geboten: Bei kongestiven Patienten treten dann wieder Beinödeme oder Lungenstauungen auf. Alle Absetz-Studien mit Diuretika sind negativ ausgegangen.

Heutiger Stellenwert von Digitalis:

  • Für Digitalis gibt es heute nur noch wenige Indikationen; insbesondere bei älteren Patienten ist hier Vorsicht geboten.
  • Cave Hypokaliämie und Niereninsuffizienz!
  • Cave hohe Dosierungen (sie verschlechtern die Lebenserwartung).
  • Treten unter Digitalis Rhythmusstörungen auf, so ist dies immer auf Fehldosierungen zurückzuführen.
  • Digitoxin ist geeigneter als Digoxin, da besser steuerbar.
  • Es sollten primär ACE-Hemmer und Betablocker eingesetzt werden.
  • Bei Vorhofflimmern keine Kombination mit Amiodaron (erhöhte Letalität).
  • Im Zweifelsfall absetzen!

 

Aldosteronantagonisten im Alter
Auch hier ist große Vorsicht geboten, denn es besteht ein hohes Hyperkaliämierisiko:

  • bei Diabetes mellitus
  • und bei Niereninsuffizienz (Krea >1,5 mg/dl)

Bei einer Kreatinin-Clearance < 30 ml/min/1,73 qm sind Aldosteronantagonisten kontraindiziert.

 

Alternativmedizin im Alter
Viele ältere Patienten nehmen diverse alternative Arzneimittel wie z.B. roten Reis, Omega-3-Fettsäuren, Crataegus, Johanniskraut, Coenzym Q10, Knoblauch- und Ginkgopräparate ein. Hier ist große Vorsicht geboten: Auch Phytopharmaka sind Medikamente und können Nebenwirkungen und Interaktionen mit anderen Medikamenten verursachen! Einige dieser Substanzen können sogar zu perioperativen Anästhesiezwischenfällen bis hin zu vermehrtem Nachbluten führen. Man sollte die Patienten daher nach ihrer Einnahme von OTC-Medikamenten und Phytopharmaka befragen und warnen bzw. aufkären.

* Forta-Liste (https://www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta/FORTA_Liste_2015_deutsche_Version.pdf)
** Rita Redberg: Statins for Primary Prevention – The Debate is Intense, but the Data Are Weak. JAMA Internal Medicine 2017; 177:21