Psychotherapie bei Adipositas (2019)

Portrait-Foto Altenburg

Dr. Dipl.-Psych. Nicole Altenburg

  • Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie, Psychodiabetologin und Fachpsychologin DDG
  • Psychotherapeutische Praxis
  • Bahnhofstr. 21
  • 88048 Friedrichshafen/Kluftern

Probleme der Adipositastherapie

Da die Eigenmotivation bei Menschen, die ihr Gewicht reduzieren müssen, eine wichtige Rolle spielt, muss man sich zunächst einmal darüber klar werden, aus welchen Gründen sie essen bzw. nicht essen. Normalerweise können Menschen auf die Frage „Welche Gründe haben Sie, zu essen?“ sehr viele Ursachen (z. B. Hunger, Appetit, Langeweile, Stress, soziale Gründe) angeben; ihnen fallen aber nur wenige Gründe dafür ein, nicht zu essen. Gerade auf diese Motivation kommt es aber an. Deshalb muss abgeklärt werden: Hat der Patient wirklich einen Grund und eine hohe Motivation zum Abnehmen? Wie sieht sein häusliches Umfeld aus?
Adipositas ist zu 50–80% genetisch verursacht; die Patienten müssen also ständig gegen ihre Gene ankämpfen, nur um ihr Gewicht zu halten, was auf die Dauer sehr anstrengend und frustrierend ist. Hinzu kommt, dass der Stoffwechsel sich im Alter verlangsamt, was eine Gewichtsabnahme zusätzlich erschwert.
Vor allem bei Mensch mit starkem Übergewicht (über 150 kg) reicht eine reine Verhaltenstherapie nicht aus; für solche Patienten braucht man einen multidisziplinären Behandlungsansatz:

  • hypokalorische Ernährung (eventuell mit Formula-Diäten)
  • körperliche Aktivität
  • eventuell Medikation (z. B. Orlistat + medikamentöse Therapie komorbider Erkrankungen)
  • eventuell Adipositaschirurgie
  • Verhaltensmodifikation

Verhaltenstherapie der Adipositas

Abklärung begleitender psychischer Probleme oder Essstörungen
Wichtig ist, den Patienten dort abzuholen, wo er steht. Man muss herausfinden: Welche Funktion erfüllt dieses Fehlverhalten in seinem Leben? Und natürlich muss man prüfen, ob bei dem Patienten auch noch andere psychische Probleme oder Essstörungen eine Rolle spielen. Solche Probleme müssen vorrangig und störungsspezifisch behandelt werden.
Viele Übergewichtige leiden beispielsweise an einer Binge Eating Disorder (BED). Solche Patienten kompensieren ihre Essattacken nicht durch Erbrechen oder Abführen. Das Leitsymptom, das für die Diagnostik einer BED unbedingt vorhanden sein muss, sind Essanfälle mit Kontrollverlust. Die Störung besteht im Durchschnitt an zwei Tagen pro Woche seit sechs Monaten und erzeugt einen hohen Leidensdruck.
Zusätzlich müssen mindestens drei der folgenden Symptome vorliegen:

  • 1) Der Patient isst viel schneller als normal
  • 2) trotz fehlendem Hungergefühl
  • 3) und hat danach ein enormes Völlegefühl.
  • 4) Er isst meistens allein
  • 5) und leidet unter Ekel, Deprimiertheit und Schuldgefühlen

Wichtige Elemente einer Verhaltenstherapie bei Adipositas
Eine wichtige Säule der Verhaltenstherapie bei Adipositas ist die Psychoedukation: Oft fehlt es den Patienten ganz einfach an Wissen zur Bewältigung ihres Problems, z. B. über die verschiedenen Nahrungsbausteine und über für eine Gewichtsabnahme geeignete Lebensmittel.
Als Nächstes muss man zusammen mit dem Patienten

  • aufgrund seiner Lebensgeschichte ein Diathese-Stress-Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung seines Übergewichts aufstellen
  • und ein erreichbares Zielgewicht festsetzen (dies muss nicht unbedingt das Normalgewicht sein – denn das schaffen viele Patienten nicht!). Wichtig ist, dass der Abnahmeprozess nicht zu schnell abläuft. Eine solche Zielvereinbarung könnte z. B. lauten, dass der Patient nach einem Jahr 10 % seines Ausgangsgewichts abgenommen haben soll.
  • Die Patienten müssen anfangen, sich satt zu essen, um Essattacken vorzubeugen (Anti-Diät-Konzept; Erarbeiten eines individuellen Ernährungsplans mit geeigneten Lebensmitteln).

Ferner ist es sinnvoll, den Patienten ein Ernährungstagebuch führen zu lassen, in das er Uhrzeit, Ort und die jeweils verzehrten Nahrungsmittel einträgt und auch über etwaige Heißhungerattacken und über seine Gedanken und Gefühle Buch führt.
Wichtig ist außerdem ein Bewegungsprotokoll.
Der Therapeut sollte zusammen mit dem Patienten adäquate Bewältigungsstrategien erarbeiten:

  • Einsatz angemessener Belohnungen
  • Emotionsregulationsstrategien
  • Selbstfürsorge, Entspannungstechniken (für den Alltag)
  • Genusstraining (vom „Vielesser“ zum Feinschmecker)
  • Förderung angemessener Konfliktbewältigungsstrategien und funktionalen Beziehungsverhaltens (Gespräche, Übungen)
  • Stimuluskontrolltechniken: Halten Sie Ihre Patienten dazu an, kleinere Teller zu verwenden! Man wird beim Essen von einem kleineren Teller eher satt als von einem großen, wenn jeder Teller die gleiche Essensmenge enthält.
  • Wichtig ist auch das Konzept der flexiblen Kontrolle: Der Patient sollte sich keine strikten Gebote und Verbote (z. B.: „Ich trinke nie mehr Bier“ oder „Ich esse jeden Tag Gemüse und Kartoffeln“) auferlegen, sondern stattdessen lieber mit einer flexiblen Kontrolle arbeiten: „Ich versuche, im Monat mit zehn Flaschen Bier auszukommen“ bzw. „In der nächsten Woche esse ich jeweils fünf Portionen Gemüse und Kartoffeln“.
  • Einen hohen Stellenwert nimmt auch die Reflexion dysfunktionaler Kognitionen ein (z. B.: „Wenn ich erst mal angefangen habe zu essen, ist doch sowieso schon alles egal…“ oder „Diabetes tut ja nicht weh, kann also auch keine ernsthafte Krankheit sein“).
  • Stattdessen sollte man gemeinsam mit dem Patienten neue Bewältigungsstrategien erarbeiten und alternative Verhaltensweisen implementieren (Wie könnte ich mich entspannen?, Was könnte ich tun, wenn ich mich ärgere?, Wie könnte ich mich bei Erfolg belohnen?, Was möchte ich tun, wenn mir langweilig ist?).
  • Ferner muss an einer Erhöhung des Selbstwertgefühls des Patienten gearbeitet werden (Übergewicht und Essstörungen sind häufig mit Scham verbunden), und der Therapeut sollte auch darauf achten, ob der Patient an einer Körperschemastörung leidet.
  • Im Rahmen eines sozialen Kompetenztrainings lernt der Patient, Nein zu sagen und sich gegenüber anderen abzugrenzen, z. B. wenn er bei sozialen Anlässen zum Essen genötigt wird.

Als nächster Schritt muss am Ziel der Gewichtsstabilisierung gearbeitet werden. Hierbei spielen Maßnahmen wie Misserfolgsprophylaxe, Rückfallprävention und Schaffung eines sozialen Unterstützungsnetzes eine wichtige Rolle. Der Therapeut erarbeitet mit dem Patienten langfristige Gewichtsmanagementstrategien, Zukunftsvisionen und einen Lebensplan.

Hier können Sie den Vortrag anhören: