Prof. Dr. med. Matthias Reinhard
Chefarzt der Klinik für Neurologie
Klinikum Esslingen GmbH
Hirschlandstraße 97, 73730 Esslingen
Multiple Sklerose
Verlauf
Die multiple Sklerose (MS) verläuft im Großteil der Fälle (85%) in den ersten Jahren schubförmig und geht dann bei 50–60% der Patienten in einen sekundär progredienten Verlauf über, der therapeutisch relativ schwer zu beeinflussen ist. 15% der Patienten haben einen primär chronisch progredienten Verlauf, der bis dato kaum behandelbar ist.
Neue Substanzen
In den letzten Jahren hat sich in der MS-Therapie ziemlich viel getan. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen einer Basistherapie und einer Therapie der Eskalation bei hochaktiven MS-Formen. Für die Basistherapie standen jahrelang nur Interferone und Glatirameracetat (Copaxone®) zur Verfügung. Damit lässt sich eine Schubratenreduktion um ca. 30% erreichen. In den letzten 10 Jahren sind neue Substanzen für hochaktive Verläufe hinzugekommen, die deutlich wirksamer sind als die Interferone: Damit kann man eine Schubratenreduktion um 80% bewirken und das Auftreten neuer Entzündungsnarben praktisch komplett unterdrücken. Allerdings haben diese Antikörpertherapien ganz andere, neue Nebenwirkungsspektren.
Zwei neue Substanzen werden sicherlich weite Verbreitung finden. Beide dienen zur Prophylaxe (wobei das Ocrelizumab auch in der Therapie der chronisch progredienten Form eine wichtige Rolle spielen wird):
Autoimmun-Enzephalitis
20% aller Enzephalitis-Fälle sind immunvermittelt. Es gibt eine ganze Reihe von Oberflächen-Autoantikörpern, die in der Mehrzahl der Fälle nicht paraneoplastisch sind.
Man unterscheidet zwei Hauptformen der Autoimmun-Enzephalitis:
Bei Patienten mit unklaren demenziellen, depressiven, schizophrenen oder psychotischen Krankheitsbildern und unklaren epileptischen Anfällen sollte man nach solchen Antikörpern suchen; denn wenn man diese Enzephalitiden frühzeitig therapiert (akut mit Kortison, Plasmapherese, anschließend mit Rituximab oder Azathioprin), sind die Behandlungserfolge erstaunlich gut; oft lässt sich damit eine vollständige Rückbildung der Symptome erzielen.
Borreliose
Neue Erkenntnisse zur Symptomatik
In diesem Jahr wird erstmalig eine S3-Leitlinie zum Thema Borreliose erscheinen. Die Metaanalysen, auf denen diese Leitlinie basiert, haben interessante neue Aspekte ergeben: Laut diesen Metaanalysen litten Patienten, bei denen eine gesicherte Neuroborreliose (mit positiver Liquordiagnostik) vorlag, viel seltener an dem klassischen Beschwerdebild mit Kopfschmerzen, Fatigue/Neurasthenie, kognitiven Störungen und Kopfschmerzen als Patienten, bei denen nur eine mögliche Neuroborreliose vorlag.
Prolongierte Antiobiotikatherapie bei chronischen Symptomen nach Borreliose?
Laut einer neuen Untersuchung an 281 Patienten mit klassischer neurasthener Symptomatik (Fatigue, Schmerzen, Arthralgien, kognitive und sensible Störungen) bringt eine dauerhafte Antibiose hinsichtlich der Lebensqualität keinen Nutzen.
Morbus Parkinson
Neue Medikamente
Das Hauptproblem in der Pharmakotherapie des Morbus Parkinson besteht darin, dass das therapeutische Fenster der Dopamin-Rezeptorstimulation im zeitlichen Verlauf immer enger wird: In den ersten Jahren kann man die Patienten damit noch so gut einstellen, dass sie kaum unter Symptomen leiden; doch dann treten Wirkungsschwankungen (Dyskinesien, Freezing) mit immer mehr „off“-Phasen auf. Das Hauptziel der Parkinson-Therapie besteht darin, eine gleichmäßige Rezeptorstimulation zu erreichen.
Grundsätzlich beginnt man die Therapie bei jüngeren Patienten (unter 70 Jahren) eher mit Dopaminagonisten und MAO-Hemmern, bei älteren (über 70 Jahren) primär mit L-DOPA; letztere Substanz ist für jüngere Patienten nicht so gut geeignet, da sie im Verlauf etwas früher zu Dyskinesien führt.
Mit dem neuen COMT-Hemmer Opicapcon (Ongentys®), der den L-DOPA-Abbau hemmt, lässt sich die „on“- Phase um 2 Stunden pro Tag verlängern. Ein L-DOPA/Carbidopa-Präparat, bei dem die Wirksubstanzen langsam und kontinuierlich aus Mikrosphären freigesetzt werden und das die „on“-Phase um 2–3 Stunden verlängert, ist in den USA bereits im Handel und auch in Europa unter dem Namen Numient® (IPX-066) zugelassen, aber noch nicht im Handel verfügbar (hohe Therapiekosten; in den USA: 500–1000 Dollar pro Monat).
Pumpentherapie und tiefe Hirnstimulation
Eine kontinuierliche L-DOPA-Zufuhr mithilfe einer Pumpe über eine Jejunalsonde, die zu einer möglichst gleichmäßigen Stimulation der Rezeptoren führt, ist bei schweren Fluktuationen und schwerem Tremor, aber auch bei „unfitten“, sehr alten Patienten angezeigt. Der Pflege- und Überwachungsaufwand ist jedoch sehr hoch; für Patienten, die noch aktiv im Alltag stehen, ist diese Therapie daher problematisch. Für diese noch etwas aktiveren Patienten ist eine Apomorphinpumpe besser geeignet. Für „fitte“, nicht demente Patienten unter 70 Jahren ist auch die tiefe Hirnstimulation eine sehr gute Therapieoption. In den neuen Leitlinien wird sie auch schon früher im Verlauf (bei beginnenden motorischen Fluktuationen) empfohlen. Das Eingriffsrisiko ist relativ niedrig.
Migräne
CGRP als neues Superziel der Migränetherapie?
Das CGRP ist wahrscheinlich das Hauptagens bei der Migräne, sowohl in der Schmerzweiterleitung als auch in der Vasodilatation der duralen Gefäße. Mittlerweile wurde ein CGRP-Rezeptor-Antikörper als Migräneprophylaxe entwickelt: Durch den vollständig humanen monoklonalen Antikörper Erenumab (140 oder 70 mg), einmal im Monat subkutan injiziert, ließ sich in der Phase-3-Studie STRIVE die Anzahl der Migränetage halbieren, und dies bei gutem Nebenwirkungsprofil (gleich wie Placebo). Eine Zulassung wird für 2017 erwartet.
Routinetherapie
RoutinetherapieHinsichtlich der Routinetherapie bleibt alles beim Alten:
Demenz
Hinsichtlich der Grundtherapie gibt es nichts Neues, außer dass für gereinigte, hochdosierte Ginkgo-Präparate mittlerweile ein klarer Wirksamkeitsnachweis vorliegt (Ginkgo-Konzentrat 240 mg/Tag: Tebonin konzent®). Wichtig ist es bei solchen Patienten stets, nach symptomatischer Demenz (metabolisch, Hypovitaminosen [TSH, Vitamin B12], Raumforderung, Normaldruckhydrocephalus, Autoimmunenzephalitis) zu suchen und diese ggf. zu behandeln.
Schlaganfall
Akuttherapie Die Thrombektomie ist leider insgesamt nur für ca. 5–10% aller Patienten geeignet (Standardverfahren für Patienten mit Verschluss großer intrakranieller Gefäße); außerdem handelt es sich hierbei um einen hochspezialisierten Eingriff, der unter Intubationsnarkose durchgeführt wird. Durch eine zusätzlich zur Thrombolyse durchgeführte Thrombektomie lässt sich die Rate an Patienten mit geringer Behinderung verdoppeln.
Praktisches Vorgehen: Die Möglichkeit zu einem solchen Eingriff ist längst nicht in allen Kliniken verfügbar. Primär sollte wenn möglich immer eine i.v. Thrombolyse durchgeführt werden, denn diese löst auch große Gerinnsel in 10% der Fälle schon auf. Dann erfolgt i.d.R. die Verlegung des Patienten zur Thrombektomie in ein hierauf spezialisiertes Zentrum.
Sekundärprophylaxe nach Schlaganfall