Update Neurologie 2019

Portrait-Foto Reinhard

Prof. Dr. Matthias Reinhard

  • Chefarzt Klinik für Neurologie
  • Klinikum Esslingen GmbH
  • Hirschlandstraße 97
  • 73730 Esslingen

Neurostimulation bei Querschnittslähmung (Paraplegie)

Eine phasische Rückenmarkstimulation (je nach intendierter Gangphase) + intensives Laufbandtraining kann Patienten mit inkomplettem hochgradigem Querschnitt helfen: Kleinere Fallserien zeigen, dass durch eine solche Therapie auch Patienten,, die schon seit längerer Zeit im Rollstuhl saßen, wieder im Rollator gehen konnten. (Wagner et al. Nature 2018; Angeli et al. NEJM 2018; Gill et al. Nature Medicine 2018)

Multiple Sklerose (MS)

Therapie
Der Trend geht zu einer aggressiven Therapie im schubförmigen Stadium. Im Schub wird mit Antikörpern (CD 20, CD 52, Integrin) therapiert. Diese haben allerdings ein breites Nebenwirkungsspektrum (v. a. gefürchtet: JC-Virus). Leider zeigt sich das Ausmaß der Nebenwirkungen neuer Substanzen oft erst nach Markteinführung.
Ansätze zur Reparatur (Remyelinisierung) sind bislang leider wenig erfolgreich.
Es kommen immer mehr neue Medikamente auf den Markt. Neu zur Behandlung der (hoch)aktiven Verlaufsform sind:

  • Cladribin (Mavenclad©): ein Nukleosid-Analogon in Tabletten-Form, 4 kurze Zyklen in 2 Jahren, mittelgradige Wirksamkeit; Nebenwirkungen: erhöhtes Infektionsrisiko, frgl. Tumorrisiko
  • Ocrelizumab (Ocrevus®): Weiterentwicklung von Rituximab (10 x teurer), verursacht etwas wenig allergische Reaktionen, ist im Prinzip aber wahrscheinlich nicht besser wirksam. Starke Wirksamkeit bei schubförmiger MS; mäßig wirksam bei primär progredienter MS; Nebenwirkungsspektrum bislang recht gut

Add-on-Therapien
Vitamin D:
Patienten mit hohem Vitamin D-Spiegel (>40 ng/ml) haben ein um 62% niedrigeres MS-Risiko. Kann Vitamin D auch das Fortschreiten einer multiplen Sklerose günstig beeinflussen? In einer randomisierten doppelblinden Studie (SOLAR-Studie) wurde Patienten mit schubförmiger MS hochdosiertes Vitamin D (14.000 IE/Tag vs. Placebo) verabreicht. Das Vitamin bewirkte zwar keine Schubreduktion, doch im Kernspin zeigten sich um 32% weniger neue Herde. Ich empfehle Patienten mit einem Vitamin D-Spiegel unter 40 ng/ml eine Vitamin D-Gabe von 20.000 IE/Woche.

Propionsäure bewirkt im Tiermodell eine Verlangsamung der MS (MS-Patienten: 2 x 500 mg/Tag; keine Nebenwirkungen); bislang gibt es hierzu jedoch keine Studien mit klinischem Endpunkt.

Glioblastom

Bisher beträgt die Überlebenszeit beim Glioblastom 17 Monate. Es gibt jedoch zwei eventuell vielversprechende neue Therapieansätze:

  • Eine rekombinante Polio-Rhinovirus-Chimäre (gegen CD 155), direkt in den Tumor infundiert, hat in einer Phase-1-Studie (n = 61) bei einem Teil der Patienten ein Therapieansprechen mit längerem Überleben bewirkt (Desjardins et al. NEJM 2018).
  • Behandlung mit einer „Wechselstromhaube“, die mehr als 18 Stunden/Tag getragen werden muss: Eine offene randomisierte Studie zeigte eine Überlebensverlängerung um fünf Monate im Mittel (Stupp et al. JAMA Oncol 2018). Die Hauben erzeugen elektrische Wechselfelder (sog. Tumortherapiefelder, TTF), die durch die Schädeldecke abgegeben werden und die Teilung von Krebszellen verhindern sollen.

Parkinson

Therapeutisch hat sich auf diesem Gebiet im letzten Jahr nicht viel Neues getan; dafür ist man jedoch im Verständnis der Erkrankung weitergekommen. Man sieht die Parkinson-Krankheit zunehmend als Systemerkrankung (Alpha-Synukleinopathie) mit Entstehung im Darm, die sich wahrscheinlich über den Nervus vagus ins Gehirn ausbreitet. (Patienten nach Vagotomie haben ein um 40%, Patienten nach Appendektomie ein um 20% geringeres Parkinson-Risiko.) Allerdings gibt es auf der Basis dieser Erkenntnis bislang keine Therapieoption: Durch einen Affitope-Impfstoff (Phase 1) lässt sich eine Immunantwort gegen Alpha-Synuklein erreichen; klinischer Effekt und Zeitpunkt der Impfung sind jedoch noch unklar. Bulgarischer Joghurt (mit Lactobacillus bulgaricus) schützt mitochondriale Neuronen im Gehirn vor einer DJ1-Mutation, die bei Parkinson gehäuft auftritt. Es gibt jedoch noch keine Studien am Menschen; Effekt und Dosis sind unklar.
Im letzten Jahr sind zwei neue Parkinson-Medikamente auf den Markt gekommen, die auf eine gleichmäßigere Rezeptorstimulation abzielen und unter denen daher weniger Wirkfluktuationen auftreten:

  • der COMT-Hemmer Opicapcon (Ongentys©), durch den sich die „on“-Zeitdauer um 2 h/Tag verlängern lässt. Der Zusatznutzen gegenüber Entacapon ist jedoch fraglich
  • der MAO-B-Hemmer Safinamid (Xadago©) (Verlängerung der „on“-Dauer um 1,5 h/Tag)

Für „fitte“ Patienten (keine Demenz, unter 70 Jahre) mit schweren Fluktuationen/Dyskinesien und schwerem Tremor kommt eine tiefe Hirnstimulation in Frage, durch die sich das Beschwerdebild um ungefähr 50 Prozent bessern lässt, für „unfitte“ Patienten eine DOPA-Pumpe (Jejunalsonde) oder Apomorphin-Pumpe (subkutan).

Neue Migräneprophylaxe

Die neue Substanz Erenumab (Aimovig©) richtet sich gegen den CGRP-Rezeptor und reduziert die Migränetage um über 50 %. Jeder 7. Patient wird darunter komplett migränefrei.

Demenz

Als Therapiekonzept nach wie vor bewährt sind:

  • körperliche Aktivität
  • psychosoziale Teilhabe, Angehörigenberatung
  • Hörstörung beheben
  • Behandlung vaskulärer Risikofaktoren
  • Ginkgo nur in gereinigter Form und hochkonzentriert: Gingko-Konzentrat 240 mg/d (Tebonin konzent©). (Laut Studienlage spricht nichts dafür, dass Ginkgo das Blutungsrisiko erhöht.)
  • Cholinesterase-Hemmer und/oder Memantin (sind nach Erfahrung von Prof. Reinhard eher in frühen Stadien wirksam)

Zu Fortasyn connect, einem in dem Nährstoffdrink „Souvenaid“ von Danone enthaltenen Nährstoffgemisch – u. a. mit Vitaminen, Mineralien, Spurenelementen und Cholin – wurde eine randomisierte Studie an 311 Patienten mit beginnenden Morbus Alzheimer durchgeführt (Soininen et al. Lancet Neurology 2017), die eine hochsignifikant geringere Abnahme des Hippocampus-Volumens im MRT und eine Verbesserung der klinischen Demenz-Rating Skala ergab. Möglicherweise lässt sich mit einer gesunden, ausgewogenen Ernährung jedoch der gleiche Effekt erreichen.
Der größte Hoffnungsträger in der Alzheimer-Therapie ist zurzeit Aducanumab (klinische Entwicklung Phase 3, Studien ENGAGE und EMERGE), ein humanisierter Antikörper gegen aggregiertes β-Amyloid (Fibrillen), der die Amyloidablagerung deutlich reduziert und die Kognition stabilisiert (Vandenberghe et al. Alzheim Dement 2017, Wang et al. Alzheim Dement 2017); die Therapie mit diesem Antikörper muss aber wahrscheinlich schon im Frühstadium eingeleitet werden.

Akuttherapie des Schlaganfalls: Das Zeitfenster wird weiter!

Die Penumbra kann bis zu 24 h überleben, d. h. das Thrombektomie-Zeitfenster kann bis auf 24 h erweitert werden. Man sollte jedem Schlaganfallpatienten diese Chance geben und ihn in den ersten 24 Stunden einer Perfusionsbildgebung zuführen. In der DAWN-Studie erholten sich 49% schwer betroffener Patienten mit großem Gefäßverschluss innerhalb dieses Zeitfensters gut durch eine Thrombektomie (Nogueira et al. NEJM 2018).

Embolic Stroke of Unknown Source (ESUS)

Dies trifft auf jeden fünften Hirninfarkt zu. Oft liegt solchen Hirninfarkten ein nicht detektiertes intermittierendes Vorhofflimmern (iVHF) zugrunde.
Mögliches Vorgehen derzeit:
Bei Patienten mit Risikofaktoren für iVHF (z. B. größere Vorhoffläche, atriale Arrhythmien, Alter > 75 Jahre) ist ein Monitoring per Event-Recorder oder externes intensiviertes Monitoring sinnvoll. Probatorisch (vor Nachweis eines VHF) können die Patienten bei starkem Verdacht und geringem/moderatem Blutungsrisiko mit NOAKs behandelt werden. Alle anderen sollten ASS erhalten. Allerdings gibt es hierzu bislang keine Leitlinien.

Hier können Sie den Vortrag anhören: