Update Psychosomatik 2019

Portrait-Foto Zipfel

Prof. Dr. Stephan Zipfel

  • Ärztlicher Direktor Innere Medizin VI
  • Medizinische Universitätsklinik Poliklinik Tübingen
  • Osianderstr. 5
  • 72076 Tübingen
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Essstörungen

Essstörungen auf dem Vormarsch
Laut einer Auswertung der AOK hat die Häufigkeit von Essstörungen in den letzten Jahren durchschnittlich um 3% pro Jahr zugenommen (v. a. die Anorexia nervosa).

Anorexia nervosa
Definition der Anorexia nervosa (DSM-5):

  • Eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperlicher Gesundheit zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt
  • Ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme oder vor dem Dickwerden oder dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt
  • Störung der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltende fehlende Einsicht in Bezug auf den Schweregrad des geringen Körpergewichts

Subtypen:

  • Restriktiver Typ: während der letzten 3 Monate keine Essanfälle oder kein „Purging“-Verhalten (selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) ⇒ Gewichtsverlust v. a. durch Diäten, Fasten und/oder übermäßige körperliche Bewegung
  • Binge-Eating/Purging-Typ: während der letzten 3 Monate wiederkehrende „Essanfälle“ oder „Purging“-Verhalten

Schweregrad:
Bei Erwachsenen anhand des Body-Mass-Index (BMI, siehe unten) und bei Kindern und Jugendlichen anhand der BMI-Perzentile.

  • leicht: BMI ≥ 17 kg/m2
  • mittel: BMI 16–16,99 kg/m2
  • schwer: BMI 15–15,99 kg/m2
  • extrem: BMI < 15 kg/m2

Die Patienten leiden unter einer Vielfalt an körperlichen Beschwerden, denn Mangel und Fehlernährung betreffen alle Organsysteme, z. B.:

  • Schwindel, Kollapsneigung
  • abdominelle Beschwerden, Obstipation, Sodbrennen (oft säurebedingte Entzündungen der Speiseröhre bei zusätzlichem Erbrechen)
  • Schmerzen im Rachenbereich
  • Amenorrhö, Fertilitätsstörung, Elektrolythaushaltveränderungen bei Erbrechen, Laxanzien- und Diuretikaabusus
  • Muskelschwäche, Muskelkrämpfe
  • Skelettschmerzen bei Belastung (selbst junge Frauen mit Anorexia nervosa entwickeln oft schon eine Osteoporose mit erhöhtem Frakturrisiko)
  • Sinusbradykardie, Hypotonie, Arrhythmien
  • Hypokaliämie mit kardialen Folgen; hypokaliämische Nephropathie bis hin zur terminalen Niereninsuffizienz
  • Schädigung des Zahnschmelzes (beim Purging-Typ)
  • Schlafstörung mit Früherwachen.

Die häufigsten Todesursachen sind Infektionen, Herz-Kreislauf-Versagen und Suizid.

Prognose
Die gute Nachricht: Man kann von einer Anorexia nervosa genesen; es gibt längerfristige Vollremissionen, aber eben leider auch eine relativ große Gruppe chronischer Patienten.

Therapie

  • Spezialisierte stationäre Aufnahme bei BMI unter 14 oder rascher Gewichtsabnahme und anderen Parametern wie z. B. häufigem Erbrechen, mehreren misslungenen ambulanten Therapieversuchen, latenter Suizidalität.
  • Das evidenzbasierte Wissen zur Pharmakotherapie ist bislang gering. Derzeit gibt es keinen Wirksamkeitsnachweis für Antidepressiva oder atypische Neuroleptika bezüglich einer Gewichtszunahme.
  • Die beste Evidenz gibt es für Psychotherapie: bei Kindern und Jugendlichen v. a. für familienbezogene Interventionen; bei erwachsenen Patienten gibt es eine moderate Evidenz für verschiedene Therapien. Die Frage, welche Therapie für welchen Patienten geeignet ist, muss von spezialisierten Zentren beantwortet werden. Wichtig ist hier ein interdisziplinärer Ansatz: Man braucht ein erfahrenes Team aus Psychotherapeuten, Medizinern und Ernährungswissenschaftlern.

Hier können Sie den Vortrag anhören: